Wenn Kinder viele Aufgaben brauchen

Es vergeht kein Tag, an dem Karl nicht schon viele Minuten vor Schulbeginn am Schultor steht, um bloß der erste sein zu können, der die Schule betritt, wenn es zum Einlass klingelt. Solche Kinder gibt es an jeder Schule. Aber nicht an jeder Schule gibt es ein Kind in der zweiten Klasse, das jeden Morgen damit beginnt zu fragen „Frau Müller, weißt du was?“. Anfangs nahm ich mir noch Zeit und hörte interessiert zu, mit der Zeit wurde es immer schwieriger, Karl verständlich zu machen, dass nicht an jedem Morgen Gelegenheit ist, zuzuhören. Im Unterricht geht es weiter. Karl weiß jede Antwort, bevor ich die Frage stelle. Lehrkräfte und Mitschüler sind oft verärgert. Gespräche mit seiner Mutter ergeben, dass Karl zu Hause genauso präsent ist, und zwar in allen Bereichen. Karl kann es nicht aushalten, nur wenige Minuten nicht beachtet zu werden und keinen unmittelbaren Zuspruch für seine Leistungen zu bekommen. Karl verlangt in jeder Situation nach einer Einzelförderung. Mir wurde das erst in den letzten Wochen bewusst. Auf den ersten Blick arbeitet Karl zwar schnell, aber oft flüchtig. Es ist ihm wichtig, stets der Schnellste und Beste zu sein. Der Schnellste ist Karl meist, der, der die wenigsten Fehler hat, dagegen nicht.

Förderung mit den passenden Aufgaben

Seit einigen Tagen bekommt Karl von mir Extraaufgaben. Es begann damit, dass Karls Handschrift oft kaum zu lesen war. Die Bemerkung auf dem Zeugnis, Karl müsse sich bemühen, sorgfältiger zu schreiben, hat ihn derart motiviert, dass er ab sofort wie gedruckt schreibt. Wenn er will. Sobald sich Karl sicher ist, ein Lob für seine Schrift zu bekommen, schreibt er sehr sauber. Er bittet mich, ihm Fehler zu zeigen, sie aber nicht zu korrigieren, so dass er sie selbst ausbessern kann. Mit Schönschrift und korrigierten Fehlern ist die Förderung aber nicht getan. Da Karl stets alle Extraaufgaben im schnellen Tempo bearbeitet, seinen Mitschülern nicht immer eine Hilfe ist, weil er es nur schlecht aushalten kann, wenn andere die Antwort nicht sofort wissen, braucht er andere Aufgaben. Alle Lehrwerke sind inzwischen auf Differenzierung angelegt, so dass Karl stets die Aufgaben mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad bearbeiten kann, aber das reicht nicht immer. Um Karls Sonderposition, die ihn bei Mitschülern nicht immer beliebt macht, nicht noch zu unterstreichen, versuche ich oft spontan, seine Ideen aufzugreifen und sofort umzusetzen, so dass sie für die anderen Kinder interessant sind. Zum Thema „Meeressäugetiere“ brachte Karl kürzlich eine Informationsbroschüre mit und fragte mich, ob wir das Thema im Sachunterricht bearbeiten können. Warum nicht? Karl wusste schon Vieles dazu zu berichten, er konnte sein Wissen einbringen und die Mitschüler ließen sich auch in ihren Bann ziehen. Ich beginne inzwischen jede Unterrichtsvorbereitung damit, mir zu überlegen, wie ich die individuelle Förderung Karls als auch die Förderung im Klassenverband gestalten kann.
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